„Im Märchen wird der Fleiß belohnt
Sie ziehen es durch, da sind sie eisern. Die noch punktlosen Regionalliga-Handballerinnen der TG Osthofen gehen am Sonntag auf Reisen. Ziel ist der SV Reichensachsen in Nordhessen am Fuße des Hohen Meißners, wo angeblich Frau Holle beheimatet gewesen sein soll. Und vielleicht wird der Trainingseifer der Wonnegauerinnen ja dort einmal belohnt - wie in dem Märchen, in dem die fleißige Stieftochter am Ende mit Gold überschüttet wird und zur Goldmarie avanciert.“ (Wormser Zeitung, Vorbericht, 31.01.2009)
„22:23 - Sportlicher Offenbarungseid
Höhepunkt in einer von Hektik, technischen Fehlern und Fehlwürfen geprägten Partie waren die letzten 21 Sekunden, als ein Fauxpas von Trainer Zoltan Bartalos das zumindest scheinbar gesi-cherte Unentschieden kostete und dem „Häuflein der zehn Aufrechten“ aus der Wein- und Sekt-stadt im Herzen des Wonnegaus den nicht einmal unverdienten ersten Sieg bescherte.
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Unter der Überschrift „Not gegen Elend" agierten zwei Teams, die kaum Oberliga-Niveau erreich-ten.“ (Werra-Rundschau, Dieter Möller, Spielbericht 02.02.2009)
Zwei Sichtweisen:
ein Vorbericht, der als letzte Hoffnung nur die Märchenwelt bemühen kann, und ein Spielbericht, der die Enttäuschung der Reichensachsener Mannschaft und Anhänger schonungslos wieder-gibt. Sicher zutreffend, dennoch scheinen mir beide Berichte dem, was am Sonntag in Reichen-sachsen geschehen ist, nicht in vollem Umfang gerecht zu werden.
Zum ersten Mal in dieser Saison hatte man das Gefühl, dass die Osthofener Damen über fast die ganze Spielzeit „ihr“ Spiel machten und sich nicht das ihrer Gegnerinnen aufzwingen ließen. Si-cher fällt das leichter, wenn der Gegner phasenweise tatsächlich einen etwas unmotivierten und hilflosen Eindruck macht, aber vor allem das Letzte erreicht eine Mannschaft nur mit eigener Willensstärke, Leistung, Disziplin und dem während des Spiels steigenden Selbstvertrauen. Psychologisch sehr wichtig war es in der ersten Halbzeit, dass Osthofen bis zur 22. Minute die eigene knappe Führung verteidigen konnte und dann bis zur Halbzeit nur mit drei Toren in Rückstand geriet. Die Zeit zwischen der 22. und der 30. Minute war bei Osthofen die schwächste Phase und tatsächlich kaum auf Oberliga-Niveau – aber eben nur für 8 Minuten. Wer von den vier Osthofener Fans auf der Tribüne nun erwartet hatte, dass Reichensachsen die bekannte Schwächepha-se ihrer Mannschaft zu Beginn der zweiten Hälfte zu einer Vorentscheidung nutzen könnte, wurde positiv überrascht. Zehn Minuten hielt die gegnerische Drei-Tore-Führung, bis Christiane Göhring mit drei Toren in Folge binnen 180 Sekunden den Ausgleich herstellte und die Reichensachsener Damen dafür bestrafte, dass die mehr über Schiedsrichterentscheidungen diskutierten als dass sie sich um das eigene Spiel kümmerten. Zwar geriet Osthofen nochmals mit zwei Toren in Rückstand, doch in der 50. Minute war beim 17:17 der Anschluss wieder hergestellt. Reichensachsen hatte nun seine schwächste Phase mit Hektik, technischen Fehlern und Fehlwürfen, so dass Ost-hofen bis zur 58. Minute sogar mit drei Toren zum 21:18 und 22:19 in Führung gehen konnte. Dann schienen Kraft und Nerven bei Osthofen am Ende zu sein. Innerhalb von knapp zwei Minuten, bis 21 Sekunden vor Schluss, arbeitete Reichensachsen sich zum 22:22 heran. Was dann folgte, ließ den einheimischen Zuschauern die Haare zu Berge stehen: der Reichensachsener Trainer wollte den Sieg und ordnete Pressdeckung an. Osthofen warf an, Laura Urbans Gegenspielerin blieb für einen Augenblick orientierungslos stehen, Laura konnte frei mit dem Ball auf das Tor zulaufen und ließ sich, nervenstark, 12 Sekunden vor Schluss die überraschende Chance nicht entgehen. Rei-chensachsen benötigte einige Sekunden, um das sich anbahnende Unglück zu realisieren und kam deshalb nicht mehr rechtzeitig vor das Osthofener Tor. Auswärtssieg!
Es war technisch von beiden Seiten wahrlich kein gutes Spiel, aber vielleicht doch etwas besser als die Werra Rundschau es gemacht hat. Wenn der im Hallenheft „Ladykracher“ abgedruckte Vorbericht der Werra-Rundschau einen überzeugenden Sieg zur Pflicht macht und eine mögliche Reichensachsener Niederlage als Sensation und große Blamage für die Heimmannschaft beschreibt, was bleibt da anderes übrig, als von Not und Elend zu sprechen? Das bezog sich am Sonntag aber auf Reichensachsen, während die Osthofener Spelerinnen sich wie Glücksmaries fühlten.
Das Spiel entschieden hat die mannschaftliche Geschlossenheit, die größere Willens- und Nervenstärke und auf Osthofener Seite vielleicht eine gewisse Gelassenheit, dass man eigentlich ja nichts zu verlieren hatte. Nach einem solchen gemeinsamen Erlebnis zögert man, einzelne Spielerinnen herauszugreifen, da jede der zehn ihren entscheidenden Beitrag geleistet hat. Dennoch war es wichtig, dass Laura Urban cool blieb, als sie kurz vor Schluss frei vor dem Tor auftauchte; dass Jolita Klimaviciene mit 8 Toren wieder bewies, welch wichtige Führungsspielerin sie in dieser Mannschaft ist; dass Ulla Paeseler einen glänzenden Tag erwischt hatte, fünf freie Bälle und einen Siebenmeter hielt und die Gegnerinnen vor allem in der zweiten Halbzeit mit ihrer Körpersprache immer wieder verunsicherte und zu Fehlern zwang; und dass Christiane Göhring sich äußerst diszipliniert in den Spielaufbau integrierte und dafür in der zweiten Halbzeit mit fünf immens wichtigen, vorentscheidenden Treffern belohnt wurde.
Auswärtssieg. Beim Tabellenzwölften. Kein Grund für Hirngespinste. Ein Erlebnis, das wie der unerwartete Sieg in Bascharage im April 2008 in Erinnerung bleiben wird. Eine Episode – aber eine, aus der die Mannschaft Selbstbewusstsein und Sicherheit ziehen wird. Für die Oberliga – denn 7 Punkte Differenz (wegen des schlechteren direkten Vergleichs eigentlich 8) auf einen auch nur eventuellen Nicht-Abstiegsplatz erscheinen zu viel.
Trotzdem: es war ein tolles gemeinsames Erlebnis und ich bin froh, dass ich dabei sein konnte.
Gerhard Paeseler
Veröffentlicht am 03.02.2009 von Susanne Paeseler